Die Kakerlake by Ian McEwan

Die Kakerlake by Ian McEwan

Autor:Ian McEwan
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783257610345
Herausgeber: Diogenes Verlag AG


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Das Wetter, dieses verlässliche Sinnbild privater wie nationaler Befindlichkeit, spielte verrückt. Auf eine fünf Tage anhaltende rekordverdächtige Hitzewelle im ganzen Land folgte ein zwei Wochen anhaltender rekordverdächtiger Dauerregen. Wie bei allen minderen Flüssen stieg der Pegel der Themse an, und der Parliament Square dümpelte unter zehn Zentimeter Wasser, in dem Plastik- und Kartonverpackungen schwammen. Selbst die besten Fotografen konnten diesem Anblick nichts Malerisches abgewinnen. Kaum aber hörte der Regen auf, zog von den Azoren erneut ein kräftiges Hoch heran und brachte eine zweite, noch längere Hitzewelle. In der Woche, als die Fluten sich langsam zurückzogen, trat man in der Themse-Stadt überall auf dichten weichen Schlick. Die Luftfeuchtigkeit sank nie unter neunzig Prozent. Kaum trocknete der Schlamm, war der Staub allgegenwärtig. Als dann noch ein sengender, ungewöhnlich kräftiger Wind aufkam, gab es tagelang urbane Sandstürme, etwas noch nie Dagewesenes, bräunlich gelb und so trüb, dass man Nelson auf seiner Säule nicht mehr sah. Ein Teil des Sandes, so bestätigten Analysen, stammte aus der Sahara. In einer Lieferung frischer Datteln auf dem Borough Market fand man einen lebenden schwarzen, zehn Zentimeter langen Skorpion. Den aufgeregten sozialen Medien war einfach nicht auszureden, dass diese giftigen Geschöpfe Windkreaturen seien, herangeweht auf den Schwingen eines Südweststurms aus Nordafrika. Schwärme von Skorpionen, das klang nach einer biblischen Plage. Ob wahr oder nicht, das Gerücht verstärkte das tiefsitzende Unbehagen jener stattlichen Minderheit der Wählerschaft, die davon überzeugt war, dass eine Katastrophe bevorstand, in die eine Regierung unverantwortlicher Ideologen das Land trieb. Eine andere stattliche Minderheit, nur um ein Weniges größer, glaubte, ein großartiges Abenteuer stünde bevor. Sie konnte kaum erwarten, dass es endlich losging. Im Parlament waren beide Seiten vertreten, nicht aber in der Regierung. Das Wetter hatte also recht, überall herrschten Chaos und getrübte Sichtverhältnisse.

Dass die Franzosen die toten Fischer in ihren Särgen einzeln und nach den jeweiligen Obduktionen über eine Woche verteilt freigaben, fand Jim nicht gerade hilfreich. Sie wurden nach Stansted geflogen, kein Flughafen, in dem er gern gesehen werden wollte. Auf Drängen der Regierung überstellte man die Toten nicht gleich an die Familien. Stattdessen wurden sie in einem Kühlhaus außerhalb von Cambridge aufbewahrt, und erst als der letzte Mann aus Frankreich eingetroffen war, flog man die sechs Särge mit einer Transportmaschine der RAF nach Royal Wootton Bassett. Jim übernahm die Planung. Er entschied sich gegen eine Blaskapelle. Vielmehr würde er allein auf der Landebahn stehen, das Gesicht stumm den Kameras und dem mächtigen viermotorigen Propellerflugzeug zugewandt, das langsam ausrollte und vor ihm hielt. Eine tapfere einsame Gestalt vor einer gigantischen Maschine. Jim hatte hervorragende Fühler für die öffentliche Gemütslage. Wie es der Zufall wollte, setzten an diesem Tag heftige Regenfälle ein. Die in Union Jacks gehüllten Särge wurden nacheinander von Soldaten der Grenadier Guards herausgebracht, langsamen, dem Anlass angemessenen Schrittes zum Premierminister getragen und ihm zu Füßen abgestellt. Der Regen spielte seine Rolle gut. Und Jim lehnte zu Recht einen Schirm ab, wie er da in Habachtstellung im strömenden Regen stand. Waren das Tränen auf seinem Gesicht? Keine abwegige Vermutung. Eine Woge von Trauer erfasste die Nation.



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